Von der Liebe

Ich war mit dem NEF unterwegs. Meldebild: „Person nicht ansprechbar“. Das kann ja gerne alles sein. Von „hat nix“ bis „reanimationspflichtig“, alles schon dagewesen. Ich störe mich ja grundsätzlich an diesem „ansprechbar“. Was bedeutet das bitte? Ich kann auch eine Stuhllehne ansprechen. Ein Felsklotz ist auch ansprechbar. Die Frage ist ja eigentlich nach der Reaktion auf dieses Ansprechen. Gibt es die? Und wenn ja, ist sie adäquat?

Aber ich schweife ab. Wir sind also auf dem Weg zu dieser nicht ansprechbaren Person. In eine Stadtgegend, die wohl, als dieser Häuserblock in den 60ern gebaut wurde, ganz schön gewesen sein muss. Mittlerweile aber ziemlich verlottert, hoher Anteil an Arbeitslosigkeit und Gewalt. Man rollt also schon ein bisschen mit den Augen, wenn es in diese Richtung geht. Wir sind da. Vierter Stock, Aufzug kaputt, war ja klar. Also zu Fuß. Der Rettungswagen trifft zeitgleich mit uns ein, gemeinsam schlörren wir also die Ausrüstung nach oben.

In der Wohnungstür erwartet uns ein hutzeliger Opi mit wässrigen Augen, die einmal beeindruckend blau gewesen sein müssen. Wir folgen ihm auf seine Aufforderung hin ins Schlafzimmer. Liebevoll eingerichtete, gut gepflegte Wohnung. Mit Oma-und Opa-Details, bei denen ich ein bisschen Heimweh nach glückseligen Kindheitstagen bekomme.

Unsere Patientin liegt im Bett. Wach. Ansprechbar. Mit adäquater Reaktion auf Ansprache. Während die Jungs das Standard- Monitoring anbringen, frage ich, was los ist. Letztlich bleibt es schwammig. Die Dame hatte bis vor einigen Tagen einen Infekt der oberen Atemwege, fühlt sich schlapp, kam heute nicht so recht aus dem Bett, irgendwie wollen die 87jährigen Knochen nicht so wie sonst. Getrunken hat sie auch nicht so viel in den letzten Tagen, und es ist ziemlich warm. Im EKG zeigt sich ein Vorhoffflimmern. Auf Nachfrage ist sich Frau Müller nicht sicher, ob dieses bekannt sei. „Heinzi…“ sagt sie. „Heinzi, hol doch mal den Brief vom Dokter. Der ist in der schwarzen Schublade, du weißt schon!“ Ihr Ehemann setzt sich langsam in Bewegung. Das Laufen fällt ihm schwer, auch er ist weit über 80 Jahre alt. Schließlich ruft er aus dem Nebenzimmer, dass er den Brief nicht findet. Frau Müller verdreht milde lächelnd in meine Richtung die Augen. „Die Männer immer… total hilflos ohne uns!“ Dann erteilt sie ihrem Heinzi so lange Anweisungen, bis er den gewünschten Brief heranbringt. Nichts bekannt von Herzrhythmusstörungen. Es hilft nichts, wir müssen Frau Müller mit ins Krankenhaus nehmen.

Behutsam setzen wir sie auf den Tragestuhl. Ihr Ehemann folgt uns. An der Wohnungstür läuft eine einzelne Träne seine Wange hinunter. Er wischt sie nicht weg. „Wissen Sie, wir sind jetzt seit 63 Jahren verheiratet!“ Dann wendet er sich zu seiner Elsa. „Pass auf Dich auf, mein Mädchen… Und komm bald wieder!“

Urplötzlich habe ich was im Auge. In beiden Augen. Aber nur kurz. Dann geht es schon wieder. Elsa ist ganz pragmatisch. Sie streicht ihrem Heinz über die Wange: „Pass Du bloß auf Dich auf, hier so ganz alleine! Ruf die Kinder an!“

Wir ziehen los.

28 Gedanken zu „Von der Liebe

  1. Hallo, ich lese jetzt schon länger auf deinem Blog mit und muss sagen echt schön wie du schreibst (: Studiere selbst Medizin, Gottseidank jetzt schon im Endstadium (:
    Ich hoffe die beiden waren wenig später wieder glücklich vereint, erst in solchen Momenten merkt man was man aneinander hat!

  2. schöne „Geschichte“

    (ich störe mich übrigens gerne an dem Ausdruck „adäquat“… das kann auch vieles sein, je nachdem welche Messlatte ich anlege, bzw. von welchem Standpunkt aus ich das Verhalten beobachte)

  3. Es gibt sie noch, die Liebe bis dass der Tid uns scheidet. Hoffentlich können die beiden ihren Lebensabend gemeinsam weiterleben. Ich hatte nicht nur ein Tränchen im Auge, als ich Deinen Blogartikel las, sind diese zwei doch meinen Eltern zu ähnlich. Liebevoll zueinander wie in jungen Jahren, Muttern hat das Heft leise aber energisch in der Hand und Papa umsorgt sie dafür liebevoll.
    Danke für Deine respektvolle Art des Schreibens darüber.
    Dein Blog ist Zucker!

  4. Meine Güte, hier ist es aber ganz schön staubig. *schnief*
    Ich hoffe, es war nicht so schlimm und die beiden waren am Ende wieder vereint.

  5. *SCHNÜFF*

    mein sohn hat nach dem abi als rettungssanitäter gearbeitet und erzählte mir eine geschichte: als sie eines tages ein sehr alte dame (ende 80) vom krankenhaus wieder nach hause brachten, öffnete ihnen ihr mann die tür. er war ganz fein gemacht, mit pullunder, hemd und gegelten, spärlichen haaren. er knuddelte die heimgekehrte, knuddelte die sanitäter und gab aus lauter freude darüber, dass SIE wieder bei ihm war, 50!!!!! euro trinkgeld.

    die sanitäter hatten auf der rückfahrt mächtig feuchte augen. und das kam nicht vom trinkgeld 😉

    liebe grüße, katerwolf

  6. Ich könnt grad echt haltlos in Tränen ausbrechen …
    Solche Szenen sind tausendmal schöner als die allertollsten Hollywoodkitschstreifen .. und es ist toll, dass man sowas immer mal wieder sieht oder erlebt .. und so echt den Glauben an so eine ewig dauernde Liebe behält *sniff*

  7. Hallo Welpe,

    ick freu mir ooch!
    Schön, dass du weiterschreibst. War schon n` paar Mal hier, ohne datt sich watt jetan hätte… 😉
    Aber nu jet et.

    Greetings!

  8. Schön, dass du wieder da bist :). Und dann noch mit einem so tollen Beitrag! *schnief* da hatte ich auch ordentlich feuchte Äuglein. Wünschen wir uns so etwas nicht alle, wenn wir alt sind? Ich schon… *seufz* 🙂

  9. Hab jetzt schon mehrmals angefangen den Kommi zu tippen aber habe es wieder gelöscht, weils zu dieser rührenden Situation nicht gepasst hat… mir fehlen die Worte. Ich finds immer wieder ausgesprochen schön, wenn man auch nach 63 Jahren Ehe nicht ohne einander sein möchte.
    Hoffe, es ist für alle Beteiligten gut ausgegangen.

  10. Rührend. Man muss die beiden direkt mögen, unbekannterweise.
    Ich hatte erst vor zwei Wochen einen fast exakt gleich gelagerten Fall. Exsikkose statt VHF aber ansonsten genauso knuffig. War das Elsa? Wo arbeitst Du nochmal sagtest Du? 😀
    Grüße!!

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