Alte Geschichten

Ich schreibe, schon immer, und immer noch, wenn auch nicht in diesem Blog, derzeit. Damit ihr treuen Seelen mal wieder was zu lesen bekommt, hier ein Text von vor vielen Jahren. Bisschen patheteisch, eventuell, aber ich hab ihn gerade wiedergefunden und hab gedacht ich teile den mit euch.

Keine Sorge, es spricht ein lyrisches Ich. Mir geht es gut, ich bin gesund und glücklich und freue mich des Lebens. Also, hier:

Königskind

Hm. Ganz schön lange Anzeige, dachte er. Dann begann er zu lesen.

„Mein Liebster.

Während Du nicht angerufen hast, habe ich mein Studium abgeschlossen, promoviert, habilitiert und es bis zur leitenden Oberärztin gebracht. Nicht an einer Universitätsklinik, aber immerhin an einem Krankenhaus der Maximalversorgung. Hast Du die Widmung meiner Doktorarbeit gelesen? Die war für Dich.

Ich habe mehrere Tausend Operationen durchgeführt. Zwei Patienten sind an meinen Fehlern sicher gestorben, wahrscheinlich einige mehr. Vielen habe ich wohl geholfen, ich komme nicht umhin, innerlich eine Augenbraue ironisch hochzuziehen bei dem Gedanken, dass ich elendig an dem Krebs krepiere, den ich seit fast zwei Jahrzehnten fremden Leuten herausschneide. Aber die Lebermetastasen machen mich ganz gelb, ich denke mir bleiben Wochen.

Während Du nicht angerufen hast, habe ich zwei Kinder geboren und aufgezogen und mich von deren Vater getrennt. Naja. Die Kinder sind aus dem Gröbsten raus, und ich glaube der Vater hat sich von mir getrennt, aber das war nicht weiter schlimm. Er liebt seine Kinder und sie sind bei ihm gut aufgehoben.

Wir haben einen Hund ausgesucht, sein Leben geteilt und ihn zu Grabe getragen – er hatte Deinen Namen. Ich habe mir immer vorgestellt , wie Du eines Tages vorbeikommst, der Labrador Dich im Garten anspringt und wir über den Namen gemeinsam lachen. Aber Du hast ja nicht angerufen.

Ich habe unzählige Bücher gelesen, im Geiste habe ich sie Dir alle vorgelesen, mein Liebster, weißt Du noch, wie wir damals nächtelang am Telefon verbracht haben, filterlose Zigaretten geraucht haben und uns gegenseitig vorgelesen haben, bis uns der Wecker unterbrach? Wir haben gemeinsam gelacht und geweint beim Lesen, und ich habe weiter gelacht und geweint, später, während Du nicht angerufen hast, als ich Dir vorgelesen habe.

Ich war im Theater, in der Oper, einmal sogar in einem Musical (das ist mir jetzt ein bisschen peinlich. Ja, es geschah im Rahmen eines missglückten Dates). Vor allem war ich in Konzerten. Viele Konzerte. Und ich habe mit den Kindern Musik gemacht, zu Weihnachten und auch sonst ab und zu. Wir hätten gerne Streichquartett gespielt, aber uns fehlte das Cello, weißt du?

Deutschland ist wieder eins, das Internet eint die Welt. Als es noch ein uns gab, unvorstellbar.

Ich habe, während Du nicht angerufen hast, Südamerika bereist. Ein halbes Jahr lang bin ich herumgezogen. Ich habe Tagebuch geschrieben, für Dich, zum Lesen, damit Du meine Erlebnisse würdest nachvollziehen können. Aber dann hast Du nicht angerufen, und ich habe das Tagebuch ins Meer geworfen. In die Nordsee, genauer gesagt. Auf Norderney, an der Weißen Düne. Weißt Du noch? Genau da habe ich mein Tagebuch ins Wasser geworfen.

Ich habe Cluburlaube gemacht, Rucksacktouren, Trekkingurlaube, Skitouren, Reiterferien (mit den Kindern, Du wirst verstehen). Immer warst Du nicht dabei.

Ich habe mein Bett mit diversen Männern geteilt, und mit einer Frau. Mit Dir nicht mehr, seit Du nicht angerufen hast.

Ich habe nie aufgehört, Dich zu vermissen. Der Platz an meiner Seite war niemals nicht mehr leer, seitdem.

Ich glaube, es war ein anständiges Leben. Unspektakulär, global gesehen, aber ich habe das Beste herausgeholt, was ich konnte. Ich wollte ein Leben zum Herzeigen haben, wenn wir uns wiedersehen. Ich denke Du verstehst. Ich wollte die bestmögliche Version von mir selbst sein, damit Du beeindruckt bist und stolz, wenn wir uns wiedersehen.

Das hat sich hiermit erledigt. Kein goldener Herbst des Lebens, in dem wir in der Toskana sitzen und ab Mittags Rotwein schlürfen und uns so oft voneinander erzählen, bis doch unsere Erinnerungen verschmelzen.

Unsere Zukunft wird mir fehlen. Viel mehr aber fehlt mir unsere Vergangenheit und unsere Gegenwart.

Könnte ich doch nur mich an Deine Schulter lehnen, mein Liebster. Würdest Du doch nur die Haare aus meinem Gesicht halten, wenn die verdammte Chemotherapie macht, dass ich kotzen muss wie eine verkaterte Vierzehnjährige nach dem ersten Vollrausch. Es würde alles einen Sinn machen.

Ich weiß nicht ob Du das je lesen wirst. Ich werde aber alles daran setzen.

Du sollst wissen, dass ich nie aufgehört habe, Dich zu lieben.

Lebe wohl, mein Seelenzwilling. Leb wohl.“

Markus klappte fassungslos die Zeitung zu.

Bis er sie ausfindig gemacht hatte, war sie tot und beerdigt. Manchmal geht es plötzlich schneller als man denkt, mit dem Krebs.

Er legte den Strauß rote Rosen auf ihr unspektakuläres Urnengrab.

Dann fuhr er 200 Kilometer nach Hause zurück und erhängte sich auf dem Dachboden.

Vielleicht würden sie ja im Tode vereint sein, er und sein Seelenzwilling.