Die Sache ist nämlich die: man muss ein komisches Gleichgewicht wahren zwischen persönlichem Erfolg und/oder Eigeninteresse und dramatischem Patientenschicksal.
So haben wir neulich viel zu spät am frühen Nachmittag eine Whipple´sche Operation begonnen: Die Entfernung von Teilen der Bauchspeicheldrüse, des Dünndarmes, der Gallenblase, eines Stückchens Magen führt man beim Pankreaskopfkarzinom durch. Nachdem man einen relativ zentralen Knotenpunkt des menschlichen Verdauungstraktes, den Bauchspeicheldrüsenkopf, entfernt hat, muss man all die losen Enden wieder vernähen. Dauert gerne mal länger. Ich sah meine Abendplanung also schon den Bach hinuntergehen, aber gut, was muss, das muss.
Wir hatten uns also im OP eingerichtet, der Chef schnitt voller Elan in den Bauch, WDR4 erfüllte den Saal mit grauenschwungvoller Musik, der Anästhesist war gerade eingeschlafen… da finden wir ein Stippchen im Bauchfell. Und noch eins. Und einen etwas größeren Knoten da am Dünndarm. Oh. Das fühlt sich nicht gut an. Der Chef nimmt eine Probe, die als Schnellschnitt in die Pathologie geht. Und operiert gedämpfter Stimmung weiter. Eine halbe Stunde später klingelt das Telefon: Das eingeschickte Gewebestückchen ist eine Metastase. Der Krebs war schneller als wir, hat Absiedelungen im ganzen Bauch gebildet. Heißt, die geplante Operation ist sinnlos. Zu spät. Wird nicht durchgeführt. Keine Chance mehr. Wir werden nur eine Umgehung für Nahrung und Gallenflüssigkeit schaffen und uns zurückziehen. Und was ist mein erster Gedanke? „Ah, ein Glück, wenn wir nicht whippeln schaff ichs noch rechtzeitig zum Yoga.“
Danach ein Haufen Schuldgefühle. Und am nächsten Tag muss das ja jemand dem Patienten sagen. Dass wir die OP, auf die er seine ganze Hoffnung gesetzt hat, nicht durchführen konnten. Der Krebs ist noch da drin, in Ihrem Bauch. Wir können Ihnen nicht helfen. Da hätte ich dann fast mitgeheult.
Wenn er wach ist und ich mit ihm spreche, ist es ein Patient, ein Mensch. Da kann ich mitfühlen. Aber hallo.
Oder, auch neulich: Wir reanimieren im OP vor uns hin. Patient, eigentlich Routine-OP, gefäßchirurgisch halt, die haben ja fast immer was am Herzen oder sonstwo, sind kränker als sie aussehen. Hat einfach abgestellt bei der Einleitung. Herz wurde ganz langsam. Dann schlug es nicht mehr. Ich bin dran mit Drücken, schaue dabei auf den Monitor, sehe die arterielle Druckkurve, die ich durch die Thoraxkompressionen produziere, und denk mir so: „BAM, ich schaff nen hundertzwanziger Druck!“. Und eine Zehntelsekunde später schäme ich mich fürchterlich. Aber in dem Moment muss ich ausblenden, darf nicht daran denken, dass da gerade ein Familienvater, ein Ehemann, der liebe Opi unter meinen Händen liegt.
Das kommt dann später. Wenn ich mit den Angehörigen gesprochen habe, die mit blassen Gesichtern und um Fassung bemüht vor der Intensivstation sitzen. Dann verstecke ich mich im Arztzimmer, trinke lauwarmen Kaffee und starre eine Weile ins Leere.
Oder wenn ich einen Zugang lege und, aus sportlichem Ehrgeiz, eine extragroße Nadel nehmen will. Oh mann… wem will ich denn da was beweisen? In den allermeisten Fällen kann ich mich zum Glück zurückhalten. So groß wie nötig, so klein wie möglich.
Oder wenn wir draußen reanimieren. Relativ junge Frau, zu jung zum Sterben zumindest, eigentlich keine relevanten Vorerkrankungen. Hat die Augen verdreht. Ist vom Stuhl gefallen beim Abendessen. Die hilflosen Freunde haben ihr noch die Füße hochgelegt. Keiner hat angefangen zu drücken. Sie haben ihr Luft zugefächert. Wir, das Notfall-Überfallkommando, stürmen die Szene. Eine Reanimation ist ein relativ dankbarer Notfall. Wir wissen alle was zu tun ist. Aber wir haben halt acht Minuten Anfahrtszeit. Von Notruf bis Losfahren sind es vielleicht auch nochmal zwei Minuten. 10 Minuten ohne Sauerstoff, das ist sehr lange für so ein Gehirn, für so einen Herzmuskel, für so einen Menschen. Zu lange, in den allermeisten Fällen. Und auch hier nützt unser Ballett nichts, obwohl wir alle Register ziehen. Die Frau kommt nicht wieder. Irgendwann brechen wir ab. Ich denke trotzdem: Das haben wir gut gemacht. Jeder Handgriff saß. Wir waren ein gutes Team. Und ich bin stolz auf uns. „Danke, Jungs, das war gut!“
Gleichzeitig fühle ich mich schlecht bei dem Gedanken. Nichts bringt den im Nebenzimmer sitzenden Freunden ihre Franziska wieder. Wie kann ich stolz sein? Ich konnte nicht helfen. Wir konnten nicht helfen. Aber wir haben doch alles richtig gemacht! Zwei Seelen in meiner Brust.
Dann gebe ich mir einen Ruck und öffne die Tür zum Nebenzimmer. Ich habe mein Stethoskop noch in der Hand. Da muss ich mich ein bisschen dran festhalten, jetzt, bei dem Gespräch mit Franziskas Freunden.