Geschichten vom NEF

Es ist Sommer. Wir sitzen vor der Wache und lassen uns bei einer kalten Cola die Sonne auf den Pelz scheinen. Wie immer, wenn es extrem gemütlich ist und man gerade denkt „geht ja eigentlich, heute….“ rappelt der Melder. Gnah. Wir rappeln auch, und zwar uns auf. Meine heutige bessere Hälfte, Karl, einer meiner liebsten Rettungsassistenten, hat auf dem Weg zum Auto etwas Vorsprung, weil ich noch meine Schuhe anziehen muss. Er schaut zuerst auf seinen Melder und wird plötzlich arg flink, dafür, dass er ein alter Hase ist und ihn eigentlich nichts so schnell aus der Spur bringt. Ich hechte hinterher und schaue erst im Auto auf den Text. Da steht: Leblose Person, Kind 6-12 Jahre, Freibad xy.

Während wir mit heulendem Horn und Blaulicht losheizen, wird mir heiß und kalt abwechselnd. Argh. Ein Kind. Argh, leblos. Argh, im Freibad. Ganz schlecht. Ich möchte nach Hause. Am besten zu meiner Mama. Am allerbesten zurück in den Uterus.

Über Funk erhalten wir die Information, dass das Kind aus dem Wasser gezogen wurde und durch die Bademeister reanimiert wird. SO schnell war ich noch nie unterwegs, in der Stadt. Karl hat die Zähne zusammengebissen und jagt unser NEF durch den Nachmittagsverkehr. Ich versuche, mir die Kinderreanimationsleitlinien und Dosierungen für die gängigen Medikamente ins Gedächtnis zu rufen – aber gerade könnte ich gefühlt wohl noch nicht einmal meinen Namen fehlerfrei schreiben. Karl wirft mir einen kurzen Seitenblick zu. Ich muss furchtbar eingeschüchtert aussehen. Er murmelt: „Das wird schon, Mädchen!“ und legt nochmals einen Zahn zu. Selbstredend befindet sich das betreffende Freibad am anderen Ende unseres Wachgebietes. Der Weg dahin dauert EWIG und doch sind wir dann plötzlich schon da. Vor dem Freibad zwei Satellitenübertragungswagen von irgendwelchen Geiern, die den Funk abgehört haben. Ich bemerke sie nur deshalb, weil sie uns fast die Einfahrt versperren. Wir fahren soweit wie möglich auf das Gelände. Auf den ersten Blick nichts Besonderes, Menschen auf den Wiesen, Picknicks, Musik, wie das halt so ist im Freibad. Auf den zweiten Blick aber doch ganz anders. Das Schwimmerbecken ist leer. Kaum Gespräche, überall atemlose Stille, ungläubiges Schweigen. Da, am Beckenrand, ein Knäuel Menschen. Ich springe aus dem Auto noch bevor wir stehen. „Ich geh schonmal!“ Karl nickt nur und holt den Kindernotfallkoffer aus dem hinteren Teil des NEF – ich sprinte derweil schon über die Wiese. Extrem unprofessionell, ich weiß, aber das ging nicht anders. Etwas atemlos komme ich am Knäuel an, welches sich für mich teilt, ich renne bis in die Mitte und sehe ein zartes Mädchen, es liegt auf dem Boden auf einer Decke und … es weint. Es schreit bitterlich und weint und weint. Ein Brocken in Größe des Mount Everest fällt mir vom Herzen. Erstmal durchatmen. Wer weint, lebt. Wer weint, muss nicht reanimiert werden. Gut. Puh. Dann gucken. Das Kind zittert, die beiden Bademeister nicht minder, meint man. Während Karl nun auch eintrifft und Sättigung (gut), EKG (schnell, aber ok) und eine Decke am Kind anbringt, versuche ich die Lungen abzuhören. Aber bei dem Gebrülle? Keine Chance. Wir wickeln die Kleine gut in die Decke ein und tragen sie in Richtung des mittlerweile eingetroffenen RTW. Die Bademeister erzählen, sie hätten das Kind im Wasser treibend gefunden, auf dem Bauch, es schnell an Land gezogen und bei fehlenden Atembewegungen begonnen, zu reanimieren. Daraufhin habe die Kleine dann angefangen zu schreien. Und dann wären wir schon da gewesen. Ah. So schnell ging das? Wie erwähnt ist mein Zeitempfinden komplett aufgehoben. Die Kleine ist mittlerweile im maximal aufgeheizten RTW, bekommt eine warme Infusion und ein Kuscheltier und beruhigt sich langsam. Ich kann nun sogar auf ihre Lunge hören, ein bisschen Rasselgeräusche, sie wird sicherlich Wasser verschluckt haben. Gut. Nicht lang schnacken, ab auf die Kinderintensiv. Während Karl uns dort anmeldet, fällt mir noch ein klitzekleines Detail ein. Dieses Kind war sicherlich nicht alleine hier. Wo sind die Angehörigen? Mutter? Vater? Letztlich findet sich ein relativ verstörter Onkel, den wir nach kurzer Info im RTW mitnehmen.

Problemlos geben wir die Kleine auf der Intensivstation ab. Den Teddy darf sie selbstverständlich behalten. Und wir, wir gönnen uns erstmal ein RICHTIG großes Eis.

 

Ein Notfall im Dienst…

Abends um halb elf klingelt mein Diensttelefon. War ja klar. Egal um welche Uhrzeit ich versuche, ins Bett zu gehen, zuverlässig bimmelt es immer genau dann, wenn ich gerade die Decke bis zu den Ohren hochgezogen habe. Halb elf war aber vielleicht auch was optimistisch.

Auf jeden Fall ist eine der Nachtschwestern dran. „Du, die Frau K… hat blutig erbrochen. Mehrere Schalen voll…“ Uh. nicht gut. Frau K. wurde letzte Woche operiert, wir haben ein Stück Dickdarm rausgeschnitten, weil sie eine Divertikulose hatte und mehrmals schon Entzündungen. Nach der OP hat Frau K. sich ein bisschen schwergetan, der Darm war noch ein bisschen träge, so dass sie jetzt, acht Tage post-op, erstens immer noch bei uns liegt und zweitens immer noch bestenfalls einen Joghurt am Tag isst. Naja. Soweit kein Grund zur Sorge, manchmal dauert es halt länger, bis sich ein Bauch von so einer Rumwühlerei in ihm erholt.

Aber mehrere Schalen frisches Blut zu erbrechen, das ist ein Grund zur Sorge. Ich wälze mich also aus dem Bett, ziehe mich wieder an und laufe auf die Station. Da sitzt Frau K auf ihrem Bett, ganz zusammengekauert und blass um die Nase, man möchte sie am liebsten in den Arm nehmen. „Frauuu Doookter, habe ich vieel gebreecht!“ sagt sie und zeigt auf einen Eimer (wohlgemerkt Eimer, nicht etwa die üblichen Nierenschälchen) in dem sich undefinierbare, dunkelrote Matsche befindet.

Ich schreite also zum Unvermeidbaren, nehme Blut ab incl. Kreuzblut (falls sie Blutkonserven brauchen sollte), hänge erstmal zum Flüssigkeitsersatz eine Infusion an und rufe den diensthabenden Gastroenterologen an. Zu Hause. Den Hintergrund-Diensthabenden. Also einen Oberarzt einer fremden Fachabteilung. Der muss da nämlich jetzt reingucken in den Magen von Frau K. Da gibt es nichts zu diskutieren. Das sieht der Kollege auch nach ein wenig Gefluche, Geschimpfe und Gejammere ein. Ich weiß, es ist mittlerweile 23 Uhr, ich finds auch nicht gut, aber was soll es. Blutiges Erbrechen in dem Ausmaß ist eine Indikation für eine Notfall-ÖGD, das wissen wir beide. Es hilft nix. Der Kollege verspricht, sich sofort auf den Weg zu machen. Puh. Mein Kopf ist noch dran.

Ich schaue nach Frau K. Sie sitzt weiter blass in ihrem Bett, hat aber nicht mehr erbrochen. Ein bisschen übel ist ihr noch. Das Blut, das ich abgenommen habe, ist schon zum Teil untersucht. Der Hb (quasi die „Blutmenge“) ist stabil geblieben. Aber das heißt nichts, in einer akuten Blutungssituation hat der Körper am Anfang gar keine Zeit, das noch übriggebliebene Blut zu verdünnen. Da kann man ganz schön reinfallen. Da ist der Hb in einem Moment noch zweistellig und im nächsten Moment ist der Patient fast verblutet. Naja, wie dem auch sei, ich organisiere ein Intensivbett und fahre Frau K. dann zur Magenspiegelung. Wir müssen noch kurz vor der Tür warten. Da schaut sie mich aus Ihren dunklen Rehaugen an und sagt mit piepsender Stimme: „Frauu Dokteer. Habe iiiiech Suuuppe gegessen. Mit roooote Beeeete.“

*argh*

„Viel Suppe?“ Frau K. zeigt mit ihren Händen. Viel Suppe, offensichtlich. DIE hat sie also wieder ausgebrochen. Uhoh. Ich lasse im Geiste an mir vorbeiziehen, wer mich alles beschimpfen oder auslachen wird: der Kollege auf Intensiv… die Nachtschwester… der Gastroenterologe, der extra um diese Uhrzeit…

In dem Moment öffnen sich die Türen, Frau K.´s Bett mit meiner mittlerweile nicht mehr so blassen Patientin wird hineingezogen. Ich schweige.

Wer 2 Liter Rote-Beete-Suppe um 10 Uhr Abends isst, hat eine Magenspiegelung verdient. Natürlich bleibt diese o.p.B.; also ohne pathologischen Befund. Das Intensivbett brauchen wir aber dann doch nicht.