Ein winzig kleiner Einblick in das Leben von Herrn Schmidt.

Dienst. Gegen 23:30 Uhr ruft die Rettungsstelle an. Männlich, 85 Jahre alt, Verdacht auf Thrombose. Meine Augen verdrehen sich spontan so weit, dass mehrere Minuten lang nur das Weiße zu sehen ist. Glaube ich zumindest. Ich HASSE diese V.a. Thrombosen mitten in der Nacht. Das sind grundsätzlich alte, demente, bettlägrige Herrschaften aus dem Heim, bei denen irgendwann ein dickes Bein aufgefallen ist. Grundsätzlich kommen die spät abends zu uns, bevorzugt Freitags, und grundsätzlich ist eine Eigenanamnese aufgrund fortgeschrittener Demenz nicht möglich und es gibt keine Unterlagen. Das höchste der Gefühle ist eine lieblose, gerne auch telefonische Einweisung durch einen niedergelassenen Kollegen. Da liest man dann schonmal: „V.a Thrombose, DD Herzinsuffizienz, DD AZ-Verschlechterung.“ Frei übersetzt: „ich hab keinen Bock, kümmert ihr euch mal“

Entsprechend gelaunt mache ich mich also auf den Weg. Im Behandlungsraum 12 (Der ganz hinten, in der Ecke, der von der Pflege nach Kräften gemieden wird) erwartet mich Herr Schmidt. Vor der Tür halte ich nochmal kurz inne. Sammeln. Professionelles Gesicht aufziehen. Kompetenz ausstrahlen. Tür auf. „Guten Abend, Herr Schmidt“.

Überraschung. Klare Augen, gut gekleideter, distinguierter alter Herr. „Guten Abend, Frau Doktor. Verzeihen Sie bitte, dass ich so spät noch komme, aber ich musste erst meine Frau gut versorgt wissen. Wissen Sie, die kann nicht mehr alleine.“

Wir unterhalten uns kurz, Herr Schmidt macht charmante Scherze, ist ein angenehmer Gesprächspartner. Ich schaue mir sein Bein an, das sieht tatsächlich nicht so richtig gut aus. Einen Ultraschall später haben wir Gewissheit. Eine Thrombose, relativ frisch, ziemlich weit hochgehend, bis fast zur großen Hohlvene reichend. Eigentlich sollte man das operieren. Ich rufe meinen Oberarzt an, der sich auf den Weg macht. Herr Schmidt sieht die ganze Sache kritisch. „Wissen Sie, ich versorge zu Hause meine Frau. Ich kann nicht so lange wegbleiben. Und wer weiß, wie das mit der Operation ausgeht.“

Mein Oberarzt schaut sich die ganze Geschichte auch an. Herr Schmidt zieht sich nach erneutem Ultraschall seine Hose wieder an. Das dauert ein wenig, aber er schafft es alleine. Wenn ich mir vorstelle, wie dieser gebrechliche alte Herr zu Hause seine Ehefrau betüddelt, die scheinbar nach einem Schlaganfall völlig hilflos ist, wird mir ganz anders. Eine Pflegestufe scheint es nicht zu geben. Herr Schmidt ist ganz erstaunt, als wir ihn darauf ansprechen. Das sei doch wohl das mindeste, was er tun könne, nach so langer Ehe. Er werde seine Frau nicht im Stich lassen. Kinder gibt es keine, aber ein Neffe schaut ab und zu vorbei.

Wir entscheiden uns letztlich gegen eine Operation. Herr Schmidt möchte partout nicht bleiben. Wir geben ihm ein Rezept für Kompressionsstrümpfe mit und Bauchspritzen zur Blutverdünnung. Und die Telefonnummer von unserem Sozialdienst. Er soll da mal anrufen. Schließlich gibt es viele Möglichkeiten zur Unterstützung. Es muss ja nicht gleich ein Heim für die Ehefrau sein. Herr Schmidt bedankt sich artig und verlässt etwas wackelig die Rettungsstelle. Einen Krankentransport möchte er nicht. Er nimmt den Bus, sagt er.

Ein paar Tage lang denke ich noch an den tapferen alten Herrn mit den klaren Augen. Dann geht er unter im Patientenwust und Alltagsstrudel.

Einige Monate später, wieder in der Rettungsstelle. Die Internistin ruft uns dazu. Patient mit Sepsis, Focus wahrscheinlich ein Abszess am Rücken. Herr Schmidt. Mindestens zehn Kilo hat er verloren. Und seinen Lebensmut auch. Er spricht kaum noch. Seine Frau ist verstorben. Er ist seit einigen Wochen im Heim. Dort seien aber nur alte Leute. Er vermisst seine Wohnung. Seine Augen sind längst nicht mehr so klar.

Wir operieren den Abszess, aber Herr Schmidt erholt sich nicht mehr von der Blutvergiftung. Er stirbt zwei Tage später. Seine Patientenverfügung hat geregelt, dass er auf keinen Fall wiederbelebt werden soll. Seinen Körper spendet er an die Wissenschaft.

Pro-Tips: diesmal für den Arzt

Heute lasse ich schreiben, hab ich mir überlegt.

Nein, das stimmt nicht so ganz. Im Rahmen der ProTip-Reihe fand sich ein Kommentar, den ich bisher noch nicht freigeschaltet hatte. Ihr bekommt ihn hier als Artikel zu lesen.

Vielen Dank an Viktoria für die Mühe die sie sich gemacht hat und für die Erlaubnis, ihren Kommentar hier auf diese Weise veröffentlichen zu dürfen (ich habe an dem Text nichts verändert).

Wir sind Angehörige. Wir lieben unseren Vater, die Ehefrau, Mutter oder das Kind, welches wir krank in der Obhut der Ärzte zurücklassen müssen. Wir tragen unser Möglichstes dazu bei, dass es unserem Angehörigen besser geht. Bitte unterstützen Sie uns nach Kräften. Wir wären Ihnen für Folgendes dankbar:

1. Krankheiten sind für uns nicht der tägliche Alltag, sondern ein Ausnahmezustand. Wenn es sich um schwere, eventuell sogar lebensbedrohliche Krankheiten geliebter Menschen handelt, macht uns das Angst und wir reagieren (zumindest am Anfang) nicht immer rational. Ein bisschen Verständnis gibt uns ein Gefühl von Sicherheit, wenn unsere Welt plötzlich aus den Fugen gerät.

2. Wir sind medizinische Laien. Es ist uns bewusst, dass es für Ärzte bestimmt überaus anstrengend ist, ihre Nomenklatur ins Deutsche zu transferieren, doch wir würden gern auf Augenhöhe mit Ihnen kommunizieren. Also erklären Sie uns bitte Diagnosen, Therapievorschläge und andere wichtige Dinge in für uns verständlichen und klaren Worten.

3. Wir wollen wirklich verstehen, was mit unserem Angehörigen passiert und was damit auch auf uns zukommt. Wenn wir – in Ihren Augen – unnütze und dumme Fragen stellen, tun wir das nicht, um Ihre Geduld auf die Probe zu stellen, sondern weil wir es tatsächlich nicht besser wissen. Augenrollen und pikiertes Räuspern ob unseres offensichtlich langsamen Verstandes beschleunigen unseren Prozess des Begreifens dabei übringens kein Bisschen.

4. Auch wir haben neben der Fürsorge und Betreuung unseres kranken Angehörigen noch unseren “normalen” Alltag zu bewältigen. Deshalb sind wir auch als Vollmachtsinhaber nicht 24/7 erreichbar. Und wenn wir wie Sie zu den “Kernarbeitszeiten” zwischen 7 und 18 Uhr arbeiten, dürfte es uns außerdem schwer fallen, wiederholte Termine in Ihrer Arbeitszeit zu vereinbaren. Unsere Chefs finden ständige Fehlzeiten nämlich nur so mittelwitzig.

5. Wenn wir einen Arzt über den Flur gehen sehen und diesen ansprechen, ist es kein Problem, wenn dieser uns sagt, er sei für unseren Angehörigen nicht zuständig. Schön wäre allerdings, dann bestenfalls mitgeteilt zu bekommen, wer zuständig und wann dieser zu erreichen ist. Wiederholte Aberfertigungen nach dem Motto: “Nicht mein Patient!!!” lassen uns langsam aber sicher daran zweifeln, dass unser Angehöriger tatsächlich in guten Händen ist.

6. Wir können nichts für die Schwächen des deutschen Gesundheitssystems und sind auch nicht für dessen Auswirkungen auf Ihren Arbeitsalltag verantwortlich. Deshalb wissen wir nicht, wie viele Dienststunden Sie bereits hinter sich haben, wenn wir es wagen, Sie um ein klärendes Gespräch zu bitten. Uns als Blitzableiter zu missbrauchen, nur weil wir gerade da sind, ist also im Zweifel immer der falsche Weg.

7. Wir sind den Ärzten unendlich dankbar für alles, was sie zum Benefit unseres Angehörigen leisten. Es ist uns bewusst, dass Sie viele Jahre dafür lernen und schuften mussten, um Ihren heutigen Stand des Wissens und der praktischen Fähigkeiten zu erreichen, der jetzt unserem Angehörigen zu Gute kommt. Es hat rein praktische Gründe, dass wir Ihnen dafür nicht permanent einen roten Teppich ausrollen (Hygienevorschriften!) oder die Korken knallen lassen (Alkoholverbot). Gegenseitig wertschätzende Kommunikation ist unser Ziel, und es freut uns, wenn Sie mitmachen.

 

Also, Kollegen, schreiben wir es uns immer und immer wieder hinter die Ohren!